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Old Testament Essays

On-line version ISSN 2312-3621
Print version ISSN 1010-9919

Old testam. essays vol.36 n.2 Pretoria  2023

http://dx.doi.org/10.17159/23123621/2023/v36n2a4 

ARTICLES

 

Beziehungen und Formen im sozialen Netzwerk der Jakobserzählung: Eine narratologische Perspektive

Relationships and forms in the social network of the Jacob narrative: A narratological operspective

 

Barbara DörpinghausI; Hans-Georg WünchII

ITSR; UNISA
IITSR; UNISA

 

 


ABSTRACT

Social relations and social networks are at the core of society. Social Network Analysis (SNA) is an emerging field that examines these networks and their structures. In this article, we will apply methods from SNA to a narrative text in the book of Genesis and analyse the social structure in the story of Jacob. In particular, we will discuss how closely connected narrative exegesis and SNA are and how this helps to understand the social dynamics described in the text. We will also discuss the limitations of this method within Old Testament studies.
Soziale Beziehungen und soziale Netzwerke sind das Herzstück der Gesellschaft. Die soziale Netzwerkanalyse (SNA) ist ein neuer Ansatz zur Untersuchung gesellschaftlicher Netzwerke und ihrer Strukturen. In diesem Artikel, werden wir Methoden der SNA auf einen Erzähltext aus dem Buch Genesis anwenden und die soziale Struktur in der Geschichte Jakobs analysieren. Insbesondere werden wir erörtern, wie eng die narratologische Exege und SNA miteinander verbunden sind und wie dies zum Verstandnis der im Text beschriebenen sozialen Dynamik beitragt. Wir werden auch die Grenzen dieser Methode innerhalb der alttestamentlichen Exegese diskutieren.

Keywords: Story of Jacob, Narrative analysis, Social Network Analysis, Family, Book of Genesis, Literature studies, Interdisciplinary Studies


 

 

A EINLEITUNG

Es ist geradezu eine triviale Feststellung, dass Beziehungen und Beziehungsnetze eine Gesellschaft jeder Form zusammenhalten. Diese werden systematisch seit einigen Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften mittels der sozialen Netzwerkanalyse (engl. Social network analysis, SNA) ausgewertet und untersucht. Die SNA versucht menschliche Interaktionen in eine analytische und auswertbare Darstellung zu transferieren. 1 Diese Arbeit soll nun der Fragestellung nachgehen, inwiefern die Methoden der SNA auf alttestamentliche Texte gewinnbringend angewandt werden können.

Die SNA hat auch abseits der Sozialwissenschaften Einzug in andere wissenschaftliche Disziplinen gefunden. Sie wird in den Geisteswissenschaften als Teil der sogenannten Digital Humanities geführt, also der computerbasierten Analyse von Daten in diesen Disziplinen. In den Geschichtswissenschaften werden beispielsweise lediglich ausgewählte Methoden der SNA verwendet. Ein Beispiel für die vereinfachte Sicht auf die SNA findet sich bei Collar: network thinking as a new methodology for understanding the processes of change and the spread of innovation in the past."2 Es ist im Rahmen dieses Artikels auch der Frage nachzugehen, welche Methoden der SNA verwendet werden könnten. Ebenso ist natürlich das Quellenproblem offensichtlich. Reitmayer und Marx fassen zusammen:

Selbst die gegenwartsnah operierende Zeitgeschichte sieht sich oft auβerstande, die für quantifizierende Untersuchungen erforderlichen Daten mit vertretbarem Aufwand und unter Beachtung der Archivsperrfristen bzw. der Zugänglichkeit von (privaten) Archiven überhaupt zusammenzutragen.3

Auch in den Bibelwissenschaften wurde die SNA schon mehrfach verwendet,4wobei auf die methodische Überschneidung mit der narrativen Exegese hingewiesen wurde.5 Somit kann die SNA zunächst lediglich ein Hilfsmittel zur Analyse und zur Visualisierung von Beziehungsstrukturen und Prozessen sein. Inwiefern sich dadurch weitere Erkenntnisse ergeben, ist zu untersuchen.

Für diese Analyse soil nun die narratologische Exegese alttestamentlicher Erzähltexte, hier beispielhaft anhand der Jakobserzählung (Gen 25-49), methodisch mit der SNA kombiniert werden. Folgende konkrete Forschungsfragen sollen beantwortet werden: (1) Inwiefern kann die SNA zur Visualisierung und Analyse von Beziehungen und Beziehungsformen in diesem konkreten alttestamentlichen Erzähltext verwendet werden und welche neuen Perspektiven ergeben sich dadurch? (2) Kann die SNA dieser Texte von weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen über soziale Netzwerke oder soziale Interaktion profitieren? (3) Welche Grenzen hat diese Methode in diesem Anwendungshorizont?

Zunächst wird dazu ein Forschungs- und Methodenüberblick über die soziale Netzwerkanalyse, insbesondere mit Blick auf die Theologie, gegeben. In einem weiteren Abschnitt wird die methodische Schnittmenge mit der narratologischen Exegese biblischer Texte diskutiert. Im Anschluss werden die Ergebnisse der SNA der Jakobserzählung dargestellt und diskutiert. Es folgen Fazit und Ausblick.

 

B DIE SNA: FORSCHUNGS- UND METHODENÜBERBLICK

Es soll nun eine detailliertere Einführung in die Methoden und Begriffe der sozialen Netzwerkanalyse gegeben werden. Eine detailliertere Darstellung der Anwendung auf die hier behandelten Texte findet sich in Abschnitt D. Die soziale Netzwerkanalyse führt Personen, Orte und andere Datenpunkte an und setzt sie in Relation zueinander, erzeugt also ein Netzwerk als Representation dieser Daten. In einem nächsten Schritt kann dieses abstrakte Netzwerk auf unterschiedliche Arten visualisiert und sichtbar gemacht werden um es dann zu interpretieren.

Die SNA führt Personen, Orte und andere Datenpunkte an und setzt sie in Relation zueinander, erzeugt also die Repräsentation eines Netzwerk. Es gibt keine allgemeingültige, formale Definition von sozialen Netzwerken. Die eigentliche Idee erscheint so trivial, dass die meisten Standardwerke zunächst mit Beispielen beginnen (vgl. Abb. 1). Auch wenn es keine formale Definition gibt, bietet Scott die folgende Umschreibung des Begriffs an:

 

 

Social network analysis conceptualises individuals or groups as 'points' and their relations to each other as 'lines.' It is concerned with the patterns formed by the points and lines and involves exploring these patterns, mathematically or visually, in order to assess their effects on the individuals and organisations that are the members of the 'networks' formed by the intersecting lines that connect them. It therefore takes the metaphorical idea of interaction as forming a network of connections and gives this idea a more formal representation in order to model structures of social relations6

Es finden sich verschiedene historische Arbeiten über die Netzwerkforschung, insbesondere in den Sozialwissenschaften7, wobei auch die Arbeit von Rollinger8 zu nennen ist. Die Wechselwirkung zwischen Gruppen und Individuen wurde schon vor dem 1. Weltkrieg untersucht, in den 1940er Jahren wurde die sogenannte Soziometrie eingeführt und ab den 1970er Jahren kam es zu ihrem wissenschaftlichen Durchbruch in den USA wobei die Disziplin verschiedene Paradigmenwechsel durchlief und sich seit den 1980er Jahren auch in anderen Disziplinen wie den Geschichtswissenschaften9 oder der Archäologie wiederfindet.10 Neben der Analyse religiöser Netzwerke11 finden sich auch Ansätze innerhalb der Theologie,12 die teilweise lediglich Einzelmethoden verwenden.13

Es ist augenscheinlich, dass die soziale Netzwerkanalyse einige Überschneidungen in ihrer Methode zur narratologischen Exegese hat, wie auch in Abschnitt C genauer diskutiert werden soll. Zunächst versucht die soziale Netzwerkanalyse menschliche Interaktionen in eine analytische und auswertbare Darstellung zu transferieren. Dazu sind folgende Punkte wichtig: Personen, Zeit und Raum. Es ist also möglich, diese drei Aspekte der Exegese in ein soziales Netzwerk zu transformieren. Dabei erfolgt in dieser Arbeit also nach Anwendung der narratologischen Exegese eine Engführung auf die für die SNA benötigten Elemente.

Dazu muss jedoch kritisch angemerkt werden: Es handelt sich um ein Netzwerk, das auf den literarischen Befund und die narratologische Exegese aufbaut und somit gegebenenfalls auch neue exegetische Perspektiven auf diese Art der Auslegung liefern kann. Damit ist das Quellenproblem der historischen Netzwerkanalyse wie es Reitmeyer und Marx beschreiben 14 nicht gelöst, allerdings muss dies in dieser Arbeit abgegrenzt werden, da die Datengrundlage ein Erzähltext ist. Anders lage der Sachverhalt, wenn historisch gearbeitet werden würde. Somit ist die vorliegende Arbeit hier entsprechend methodisch abzugrenzen. Collar et al.15 etwa weisen darauf hin, dass die HNA not a single, monolithic entity" sei. So kann an dieser Stelle nur eine Auswahl von Methoden genutzt werden - nicht zuletzt, um nicht den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen. Neben der Visualisierung sollen weitere methodische Ansätze diskutiert werden.

Somit kann die SNA für die vorliegende Arbeit ein Hilfsmittel zur Analyse und zur Visualisierung der familiären Strukturen und Prozesse sein. Inwiefern sich dadurch weitere Erkenntnisse ergeben, ist zu untersuchen. Zunächst wird in Abb. 1 eine beispielhafte Illustration des sozialen Netzwerks von Gen 25,136,30 gegeben. Zur genauen Analyse sei auf Abschnitt D verwiesen. Anhand dieser Abbildung sollen exemplarisch einige Strukturen in Netzwerken dargestellt werden. Die Darstellung der Begriffe orientiert sich primär an Schweizer.16

Zunächst kann man in einem solchen Netzwerk Knoten und Kanten unterscheiden. Knoten (engl. nodes) repräsentieren Datenpunkte, das heiβt beispielsweise Personen, Orte, Attribute. Die Kanten (engl. edges) geben Relationen und Beziehungen wieder. Eine Person kann beispielsweise eine Beziehung zu anderen Personen haben oder an einem Ort leben, zu einer kulturellen Gruppe gehören. Man spricht von benachbarten Knoten oder von der Nachbarschaft eines Knotens. Dabei kann zwischen sogenannten starken und schwachen Bindungen unterschieden werden. Dies wurde von Granovetter eingeführt.17 Der Einfachheit halber sprechen wir bei Relationen zwischen Personen und nicht-Personen immer von starken Bindungen und unterscheiden lediglich bei Personen und Personen zwischen starken (z. B. verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen) und schwachen (z.B. bekanntschaftlichen) Bindungen. Diese Art der Unterscheidung ist zunächst technisch und es bleibt gegebenenfalls zu untersuchen, ob sie für die Analyse wichtige Ergebnisse liefern.18

Die Netzwerkstruktur kann durch verschiedene Arten der Visualisierung sichtbar gemacht werden. Hier fallen in der Regel sofort dichte und vielfältige Netzwerkbereiche auf. Diese Teilnetze werden oft vereinfacht Cluster oder Community genannt. Eine Extremform des Clusters ist die Clique, in der alle Knoten paarweise miteinander verbunden sind. Sie stellen also eine Art Untergruppe innerhalb des vollständigen Netzwerks dar. In einem Netzwerk kann man sogenannte Pfade zwischen Knoten berechnen, die einen oder mehrere mögliche Wege zwischen diesen beschreiben. So kann man Redundanzen berechnen, das heiβt, ob bestimmte Netzwerkbereiche ohne diesen Knoten nicht mehr verbunden sind. Anschaulich bedeutet dies: Wenn es viele Wege von A nach B gibt, so sind diese beiden Knoten enger miteinander verbunden und verfügen über redundante Wege. Gibt es beispielsweise nur einen Weg, so bricht die Kommunikation zwischen beiden zusammen, wenn dieser entfällt.

Neben einfachen Maβen in einem Netzwerk gibt es auch verschiedene sehr komplexe Methoden. Das Degree (dt. Knotengrad) beispielsweise beschreibt wie viele Nachbarn ein Knoten hat, das heiβt die Anzahl der Verbindungen eines Knotens. Es sagt allerdings nur wenig über die Stellung einer Person im Netzwerk aus. So kann in einem Dorf der Postbote jeden Menschen kennen, trotzdem wird der Bürgermeister eine höhere Stellung haben. Lediglich für die unmittelbare Kommunikation ist ein hoher Knotengrad von Vorteil. Die Betweenness, analysiert kritische Verbindungen zwischen Knoten und gibt damit einen Hinweis auf Personen, die den Informationsfluss in einem Netzwerk verändern können. 19 So ist eine Person, die eine Brücke zwischen zwei verschiedenen Gruppen darstellt, oft gar nicht die einzige derartige Verbindung. Im Gegensatz zur Brokerage, das heiβt Knoten, die verschiedene Cluster verbinden, werden dabei auch weitere indirekte Verbindungen berücksichtigt.20So sind die Groβeltern im vorherigen Beispiel mit Cousinen und Cousins eine Brokerage, es können aber auch andere Bekannte beider Familien eine hohe Betweenness aufweisen und gegebenenfalls für Kommunikation zwischen den familiären Teilnetzen sorgen.

Die Closure, beschreibt abgeschlossene Gruppen also Cluster oder Communities. Die Knoten innerhalb einer solchen Struktur sind Knoten, die potenziell Vertrauen innerhalb eines Clusters aufbauen können. Dieses Maβ ist besonders schwer zu interpretieren, da bereits diese soziale Nähe ein interpretierendes Konzept der Sozialwissenschaften ist. Das Degree (dt. der Knotengrad), beschreibt wie viele Nachbarn ein Knoten hat, das heiβt die Anzahl der Verbindungen eines Knotens. Die Closeness wird durch die Anzahl der kürzesten Wege von einem Knoten ausgehend bestimmt. Damit gibt sie die potenzielle Möglichkeit eines Knotens, neue Verbindungen zu schaffen, an. Im Gegensatz zur Betweenness werden hier also nur ausgewählte Wege und Möglichkeiten in Betracht gezogen. Das heiβt, während die Betweenness alle möglichen Wege im kompletten Netzwerk, von jedem Knoten zu jedem anderen, berücksichtigt, schaut die Closeness nur auf das Closure eines Knotens, also seine unmittelbare Nachbarschaft.

Anhand dieser Eigenschaften können statistische Kennwerte, sogenannte Zentralitätsmaβe oder engl. centrality measures errechnet werden, vgl. hierzu Freeman . Sie geben eine mögliche Antwort auf die Frage Welche Knoten in diesem Netzwerk sind besonders signifikant oder wichtig?"

Zunächst ist die betweenness centrality zu nennen. Sie errechnet alle kürzesten Wege in einem Netzwerk und analysiert - wie oben ausgeführt - die kritischen Verbindungen und wie oft ein Knoten auf einem solchen Weg liegt. Dieses Zentralitätsmaβ gibt also Antwort auf die Fragen, ob ein Knoten den Informationsfluss in einem Netzwerk verändern kann oder ob er eine Brücke darstellt zwischen anderen Knoten.21 Diese Methode ist also das statistische Maβ für das oben eingeführte Konzept der Betweenness.

Die sogenannte eigen centrality misst zusätzlich zur Betweenness die Lage der direkten Nachbarknoten im Netzwerk. Damit wird nicht nur die direkte Einflussmöglichkeit auf Nachbarn, sondern auch die indirekte Möglichkeit Einfluss auf das gesamte Netzwerk zu nehmen, bemessen.

Weitere gelegentlich genutzte Maβe sind die closeness centrality und die harmonic closeness centrality. Da die SNA in den Geschichtswissenschaften und der neutestamentlichen Exegese verwendet wurde, ist es möglich, das Potential dieser Methode im Rahmen dieser Arbeit auszuloten.

 

C DIE NARRATOLOGISCHE EXEGESE UND DIE SNA

Der narratologische Exegese geht es um das Sein des Textes, also um seine Textgestaltung und was der Text transportiert - oder eben nicht transportiert.22Das Werden des Textes tritt deutlich in den Hintergrund, und somit die Entstehung und die Frage nach Urformen des Textes. Sie kann auch als Basis für weitere Analysen, z. B. für sozialwissenschaftliche und soziale Netzwerke, dienen. Durch die Untersuchung der Methoden, Strukturen und Formen eines Erzähltextes werden die Grundlagen der Bedeutungen und Einflüsse der Erzählung deutlich, so dass die nachfolgende Interpretation auf festem Boden steht. Die Untersuchung von Form und Gestaltung wird zudem ergänzende, subtilere und präzisere Sinngehalte ans Licht bringen."23

Gegenstand dieses Artikels ist einer der Erzähltexte im Alten Testament im Buch Genesis. Dabei gilt: whatever else Genesis might be, and however it originated, readers now experience Genesis as a prose narrative, and as such it seems to invite the same kind of study that other prose narratives receive."24 Damit steht die Gattung des Textes fest und es soll im Folgenden dargestellt werden, welche Themen bei narratologischen Texten untersucht werden müssen und wie das Vorgehen stattfinden kann.

Es werden verschiedene Grundbegriffe und Themen diskutiert, die auf die Schnittstellen zur SNA hin zu untersuchen sind. Andere Wissenschaftler legen anders gewichtete oder wie Berlin25 sogar deutlich kürzere Grundbegriffe dar, die allerdings mit Blick auf die SNA redundant sind. Die folgende Darstellung orientiert sich deshalb an Bar-Efrat und bezieht die anderen Ansätze gegebenenfalls mit ein wobei nur drei der Grundbegriffe relevant sind: Person, Ort und Zeit.

Die Personen: Personen geben Aufschluss über Normen und Werte, die durch die Erzählung vermittelt werden sollen. Somit dienen die Personen dem Autor und damit auch dem Leser der Vermittlung bestimmter Dinge. Dabei ist es nicht notwendig, diese Personen als wahre, existierende oder echte" Personen der Vergangenheit zu sehen, da es lediglich darum geht, zu untersuchen, was durch diese Personen vermittelt wird: Motive, Wünsche, Ziele, Gründe für Entscheidungen oder Fehlentscheidungen etcetera. Für eine Überprüfung der Historizität der Personen und Ereignisse fehlen uns nicht nur die Möglichkeiten, sondern es würde auch nichts an der Botschaft des Endtextes ändern, da diese unter anderem genau durch die Charakterisierung der Personen vermittelt wird.26Diese Charakterisierungen sind allerdings mit Blick auf die SNA nur dort sinnvoll verwendbar, wo sie Aufschluss über die Beziehungen zu anderen Akteuren geben.

Es gibt verschiedene Charakterisierungsmöglichkeiten, Utzschneider & Nitsche etwa sprechen von „Äuβeren" und Inneren" Merkmalen. 27 Diese Charakterisierungen - direkte und indirekte - sind für die Schnittstelle zur SNA lediglich mit Blick auf die Beziehungsebene interessant. Denn der beschriebenen Handlung und damit auch der Interaktion kommt eine groβe Bedeutung zu. Diese Form der Charakterisierung ist wohl die häufigste in der Bibel. Dabei bedingen sich der Fortlauf der Handlung und die Persönlichkeit der Personen gegenseitig und sind daher immanent wichtig in der Untersuchung. Allerdings weist Berlin insbesondere auf die wichtige Kombination von Handlung und Rede hin.28 Dies muss gegebenenfalls mit berücksichtigt werden, da auch hier für die SNA die Entwicklung von Relationen und Beziehungen in und durch Handlung und Rede wichtig sind.

Zeit: Eine Erzählung stellt immer einen Verlauf der Zeit dar, in der die Handlungen geschehen (erzählte Zeit), gleichzeitig vergeht Zeit während die Erzählung erzählt" wird (Erzahlzeit).29 Die Erzählzeit entsteht automatisch durch die Gestaltung der Erzählung mittels Sätze, Rhythmus, Absätze, Längen usw. Die erzählte Zeit ist selten linear verlaufend, sondern passt sich den Umständen an und beinhaltet also auch Sprünge, Ausdehnungen oder sogar Brüche. Somit sei die Gestaltung der Zeit in der Erzählung . . . funktional und nicht zufällig oder beliebig."30 Die erzählte Zeit schaffe Betonungen oder deute Verbindung zwischen Ereignissen an und sorge damit auch für Spannung beim Leser. Utzschneider und Nitsche sprechen von Kondensierung und Detaillierungszwang.31 Somit wäre es sehr wünschenswert die Zeit mit in das Netzwerk aufzunehmen, wobei dies bei einer isolierten Erzählung kaum möglich sein wird. Die Zeit ist also mit Blick auf eine statische Betrachtung eines sozialen Netzwerks immer problematisch.

Raum: Genauso wie die Zeit bietet auch der Raum einer biblischen Erzählung einen Rahmen. Der Raum wird jedoch im Gegensatz zur Zeit nur in der Erzählung gestaltet während sie gleichzeitig auch räumlich dargestellt wird. Dadurch ist das soziale Netzwerk niemals losgelöst vom Begriff der Räumlichkeit denkbar. In den meisten Fällen wird in biblischen Erzählungen der Leser vom Erzähler über den Ort informiert und eher selten wird beispielsweise von einem Boten über einen Ort berichtet. Auch hierdurch ergeben sich also Beziehungen bzw. Informationsflüsse zwischen Orten. Meistens werden die Räume dadurch beschrieben, dass sich Personen darin bewegen oder auf Orte verwiesen wird. In einigen Erzählungen kann die Bewegung der Personen sogar zu einem wichtigen Strukturelement werden. Meist wird nur der Ort des Startpunkts einer Bewegung und der Ort des Ziels der Personen genannt, was automatisch auch zu Sprüngen innerhalb der Räume führen kann. Ein weiterer Grund für die eher dürftige Beschreibung von Orten ist die Spannung zwischen Ort und Zeit, denn sobald ein Ort näher beschrieben wird (wie auch bei Personenbeschreibungen), kommt die Zeit zum Stillstand. Eine nähere und detailreiche Beschreibung des Ortes, genauso wie einer Person, würde also zu einem zeitlichen Stillstand führen, der aber die Handlung ausbremst und nicht dem Ziel dient eine schnelle Abhandlung von Ereignissen zu ermöglichen.32

Die hier beschriebenen Elemente der narratologischen Exegese beschreiben gut ihre Überschneidungen mit der SNA: Personen, Zeit und Raum sind die Elemente der SNA um menschliche Interaktionen in eine analytische und auswertbare Darstellung zu übertragen. Da die narratologische Exegese aber breiter ist, kann die SNA auf die Auslegung dieser Texte aufbauen und bietet somit weitere analytische Möglichkeiten, kann aber methodisch nicht losgelöst von ihr verwendet werden. Das Ergebnis der narratologischen Exegese dieser Arbeit ist also ein auf den literarischen Befund aufbauendes Netzwerk und es soll hier untersucht werden, inwiefern sich neue exegetische Perspektiven und Fragestellungen auf diese Art der Auslegung ergeben.

 

D DIE JAKOBSERZÄHLUNG-EINE ANALYSE

Zunächst sollen noch einmal detailliert die einzelnen methodischen Schritte diskutiert werden: Am Anfang steht eine narratologische Auslegung des Textes. Das Ergebnis ist eine Darstellung einer Situation, wie sie durch die Endgestalt des Textes dem Leser vermittelt wird: Welche Personen werden beschrieben? Wie wird ihre Interaktion, ihr Zusammenleben, ihre Beziehung miteinander beschrieben? Welche Orte werden mit Personen in Verbindung gebracht? Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, diese erhobenen und gesammelten Daten in ein soziales Netzwerk zu überführen. In diesem zweiten Schritt wird von anderen wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen ausgegangen, nämlich von überwiegend sozialwissenschaftlichen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das nun entstandene Netzwerk also zunächst nur mit der Methodenmenge der Sozialwissenschaften beziehungsweise der Digital Humanities analysiert werden kann. Welche Fragestellungen ergeben sich durch diese interdisziplinäre Komponente? Diese müssen nun in einem dritten Schritt wieder mit der narrativen Hermeneutik der Auslegung ins Gespräch gebracht werden. Welche Intention hat der ausgelegte Endtext? Ergeben sich beispielsweise signifikante Unterschiede zwischen der Bewertung und Darstellung von sozialen Gruppierungen wie Familien oder zeigt sich die narrative Bewertung auch in dem Netzwerk? Welche - vielleicht nicht direkt offensichtlichen - Verbindungen finden sich im Netzwerk und wie lassen sich diese narrativ deuten? Dabei muss die SNA dem exegetischen Ergebnis nicht zwangsläufig widersprechen oder neue Perspektiven aufzeigen. Als Minimalperspektive ergibt sich lediglich eine Illustration des Erzähltextes.

Das hier vorgestellte soziale Netzwerk beruht auf den Texten von Gen 2536. Es beinhaltet im wesentlichen drei Generationen, von Abraham bis Jakob und Esau und ihrer Kinder und Familien. Die Illustration kann mit verschiedenen Algorithmen erfolgen, die jeweils bestimmte Eigenschaften des Netzwerks hervorheben, vgl. Abbildungen 2-4. Es ist zunächst eine interessante Beobachtung, dass alle Illustrationen zu einer Dreiteilung führen, wie zum Beispiel in Abbildung 2 zu erkennen ist. Die Dreiteilung besteht aus einer Linie mit Abraham und Isaak, die sich dann in zwei weitere Teile aufteilt, nämlich jeweils Esau und Jakob mit ihren Familien. Dies verdeutlicht den literarischen Befund, dass die Familie Abrahams letztlich erst in der Generation von Esaus und Jakobs Kindern groβ wird. Auβerdem wird dadurch auch eine Erzählung visualisiert, in der Jakob in direkter Linie zu Abraham steht und sich nicht nur in der Generation von Jakob/Israel und Esau die Familie in zwei Teile teilt, sondern auch in zwei Völker - nämlich das zukünftige Israel und Edom.

 

 

 

 

 

 

Weiterhin ist auffällig, dass eine scheinbare Randfigur wie Ismael sehr prominent zwischen Abraham und Isaak visualisiert wird und viele Nachkommen hat, die der Erzähltext jedoch nicht weiter verfolgt und nur kurz erwähnt. Allerdings ist in dieser Illustration sofort offensichtlich, dass es noch eine Verbindungen von der Familie Ismaels zu Esau gibt, da dieser eine seiner Töchter geheiratet hat. Die Netzwerkstruktur der Familie Esaus erscheint auffällig zerstreut, während sie bei Jakob - genauso wie bei Ismael - enger verbunden erscheint und viele Personen jeweils auch untereinander Verbindungen haben, also einen sogenannten Cluster bilden. Im Gegenzug werden für Esau bis zu Gen 36 eine gröβere Anzahl an Beziehungen geschildert. Dies könnte an der literarischen Gestaltung des Textes liegen. In den letzten Kapiteln finden sich viele Aufzählungen und Genealogien über Esaus Familie und die Fürsten der Edomiter. Diese hier sehr prominent zu erkennende Situation dient literarisch vermutlich dazu, die Esauerzählung abzuschlieβen und den Fokus auf Jakobs Familie zu legen. Eine ausführliche Würdigung von Jakobs Familie findet sich erst in Gen 37-50, zum Beispiel in Gen 46,8-27. Als Ausblick ist auffällig, das Jakobs Familie in Gen 47,12 als Haus Jakobs" bezeichnet wird und am Ende der aufwändigen Rechnung in Gen 46 genau siebzig Personen umfasst. Dies kann als literarische Referenz an das Versprechen einer groβen Anzahl von Nachkommen in der Abrahamsverheiβung gelesen werden.33 In dem Schaubildern der SNA in dieser Arbeit kann dies so nicht gesehen werden, was wohl aber primär an der Begrenzung auf Gen 25-36 liegt.

Obwohl in diesem Artikel nur ein Teil der Jakobserzählung bearbeitet wurde, finden sich literarisch sehr viele Referenzen an Abraham, was sich in der Illustration widerspiegelt. Dies zeigt also die starke narratologische Präsenz und Wichtigkeit Abrahams in der Jakobserzählung. Dies spiegelt sich auch in den sehr viele Analogien zwischen Jakob und Abraham.

Eine weitere Beobachtung ist, dass es zwischen Esau und Jakob vor allem Orte gibt, die als Brücke" dienen. Dies lässt die Frage an den Text stellen, ob Esau und Jakob tatsächlich keinen Kontakt zueinander hatten in der Zeit von Jakobs Flucht bis zur Versöhnung. Es erscheint wahrscheinlich, dass sie über bestimmte Orte immer wieder zumindest übereinander informiert wurden oder Begegnung zumindest von ihnen bekannten Menschen stattgefunden haben. Der Text berichtet darüber nichts und geht implizit davon aus, dass Esau und Jakob keinen Kontakt mehr hatten. Das ist auch der Grund für die groβe Inszenierung von Jakobs Familie und der Geschenke bei der ersten Begegnung (Gen 33,1-20). Ob es trotzdem in der Zwischenzeit einen Informationsfluss gab, verrät der Text so nicht, die SNA lässt dies vermuten.

In Abbildung 2 werden die Knoten entsprechend ihrer Betweenness Centrality illustriert, das heiβt gröβere Knoten haben eine gröβere Zentralität. Diese gibt auch mit indirekten Verbindungen an, wie sehr eine Person den Informationsfluss in einem Netzwerk verändern kann. Dadurch können Brückenfunktionen herausgefunden werden. Esau steht nach dieser Berechnung an erster Stelle mit der gröβten Betweenness centrality (4081,41). Dies ist ein wenig überraschendes Ergebnis, denn Esau ist zumindest in dem hier behandelten Textausschnitt die Brücke zu den Edomitern (2316,93) und teilweise auch zu Jakob (3153,95) mit seiner Familie. Dies bedeutet, dass Esau literarisch für seine Familie und damit für die Edomiter eine sehr wichtige Funktion hat, da er über sehr viele Verbindungen verfügt. Das lässt zum einen darauf schlieβen, dass die Erzählung implizit davon ausgeht, dass Esau im Land verwurzelt ist. Zum anderen, dass es deshalb umso verwunderlicher ist, dass Esau in der Erzählung scheinbar ohne Zögern das Land Kanaan verlässt und Jakob überlässt.

Jakob ist nach der literarischen Darstellung ebenfalls gut vernetzt, nach Esau ist er die Person mit dem zweithöchsten Wert. Diese Werte lassen sich eventuell mit der begrenzten Textauswahl erklären. Ein anderer Grund liegt narratologisch darin, dass er stets mit wechselnden Lebensorten dargestellt wird. Zunächst war er auf der Flucht, dann lebte er einige Jahre bei Laban um danach wieder zurück nach Kanaan zu wandern. Dies erklärt, dass Jakob viele Verbindungen zu unterschiedlichen Orten hat, was auch in der Abbildung deutlich wird. Trotz allem ist Jakob sehr gut vernetzt. Eine spannende Frage ist, wie sich diese Darstellung mit den weiteren Ergänzungen der Josefsgeschichte und insbesondere Gen 46,8-27 ändern wird. Auβerdem müsste dann weiter untersucht werden, inwiefern diese Vernetzung für die Funktion der Jakobsfamilie von Bedeutung ist. Denn um Segensträger zu sein, könnte es von Vorteil sein, über möglichst viele Verbindungen zu verfügen.

In Abbildung 4 werden die Knoten entsprechend ihrer Eigen Centrality illustriert, das heiβt gröβere Knoten haben eine gröβere Zentralität. Sie misst zusätzlich zur Betweenness die Lage der direkten Nachbarknoten im Netzwerk. Damit wird nicht nur die direkte Einflussmöglichkeit auf Nachbarn, sondern auch die indirekte Möglichkeit, Einfluss auf das gesamte Netzwerk zu nehmen, gemessen. Dadurch lassen sich Closures beziehungsweise Cluster, also eng verbundene Teilgruppen im Netzwerk, identifizieren. So lassen sich unter anderem mit visueller Hilfe Personen finden, die sich besonders nahe stehen. Dies ist noch keine Bewertung der Qualität der Beziehung, die Akteure können sich im Positiven wie im Negativen nahe stehen.

In der Abbildung 4 fallen sofort drei Familien auf: Die Familien Ismaels, Jakobs und Esaus. Auffällig dabei ist, dass Jakobs und Ismaels Familien ein klassisches Cluster bilden. Durch die Verbindung alle Kinder untereinander entsteht eine groβe Nähe." Ismael ist insofern exotisch, da der Text nichts weiter über ihn berichtet. Trotzdem ist die Frage zu stellen, warum die Familien so unterschiedlich dargestellt werden. Findet sich in Esaus Familie diese Art von Nähe" nicht? Ist kein starkes Beziehungsnetzwerk vorhanden? Hier müssen exegetisch Fragen an den Text gestellt werden. Von Esau finden sich in der Jakobserzählung Hinweise auf mehrere Generationen. Würde Jakobs Familie mit seinen Beziehungsstrukturen ähnlich aussehen, wenn in dem Netzwerk weitere Generationen berücksichtigt würden? Oder findet sich in Esaus Familie weniger Nähe," weil er weniger Kinder hat und trotzdem viele Frauen? Was Jakob und Ismael gemeinsam haben, ist eine groβe Anzahl an Kinder.

Jakob verfügt in dieser Analyse mit 1 über den gröβten Eigen-Centrality-Wert, während Esau lediglich einen Wert von 0,43 hat. Zunächst sagt dieser Unterschied aus, dass literarisch Jakob mit besonders vielen nahen Beziehungen zu Personen gezeichnet wird. Dies scheint bei Esau weniger der Fall zu sein. Auch hier kann die Anzahl der Kinder eine mögliche Erklärung sein. Weiter könnte man exegetisch an den Text fragen, ob Jakob dadurch auch besonders viel Einfluss auf seine Familie und letztlich das daraus entstehende Volk hatte. Dies lässt sich eventuell beantworten, wenn man Genesis und letztlich die Rezeption von Jakob in der Bibel untersucht. Dies übersteigt jedoch den Rahmen dieser Arbeit und zeigt auch deutlich die Grenzen der SNA.

Eine Schlussfolgerung, dass zu viele Ehefrauen von Esau für eine solche Darstellung sorgen, ist nicht zulässig, da auch Jakob zwei Ehefrauen (und zwei Nebenfrauen) hatte und trotzdem ein starkes Beziehungsnetz aufweist. Auch bewertet der Text nicht explizit die Anzahl der Frauen sondern lediglich, dass Esau fremde Frauen hatte. Implizit wird jedoch sehr wohl deutlich, dass die vielen Frauen und damit die unterschiedlichen Gefälle innerhalb der Familie ein Konfliktpotential darstellten. Dies wird aber genauso bei Jakobs Familie deutlich beschrieben. Weiter fällt auf, dass die Frauen Jakobs im Vergleich zu den Söhnen und Jakob selbst eine eher geringere Zentralität aufweisen. Dies liegt vor allem daran, dass sie unterschiedlich viele Kinder bekommen haben, und deswegen unterschiedlich viele Beziehungen haben. Hier muss allerdings gefragt werden, ob Rahel beispielsweise nicht auch eine Beziehung zu Leas, und Silpas Kinder hat, genauso wie bei Lea, Bilha und Silpa. Denn immerhin lebten sie alle zusammen. Allerdings zeigt der Text dies literarisch nicht explizit, weswegen es in der SNA auch nicht abgebildet ist. Desweiteren muss noch einmal betont werden, dass die Darstellung dieser Beziehungen lediglich etwas über die Anzahl der Beziehungen und die Vernetzung von Gruppen aussagt und nicht über ihre Qualität. Somit kann man also nicht zu dem Schluss kommen, dass Jakobs Familie sehr viel bessere Beziehungen lebt als die von Esau. Erst in einem weiteren Schritt könnte untersucht werden, ob diese Familienstrukturen auch Auswirkungen auf ihr Zusammenleben und damit auch auf die Funktion der Jakobsfamilie hätte. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Die SNA kann also den literarischen Befund im Text darstellen. Sie kann eine Antwort darauf geben, welche Beziehungen und Informationen der Autor für wichtig hielt und weitere Fragen an den Text stellen. Neben diesen Rückfragen, die exegetisch an den Text gestellt werden müssen, ergäben sich eventuell weitere Perspektiven durch die Anwendung von Modellen aus den Sozialwissenschaften. Gibt es besondere Funktionen von sozialen Gefügen wie Familien oder Sippen, die sich hier erkennen lassen? Mögliche Ansatzpunkte sind Krisenmodelle. Allerdings gibt es nur wenige Modelle, die nutzbar wären. Die SNA wird für viele gegenwartsnahe Fragestellungen, etwa in Familienstudien eingesetzt, Studien zur vergleichbaren Strukturen in nomadischen Völkern oder historische Ansätze sind den Autoren nicht bekannt.34Bezüglich Krisen in Familien betonen schon Unger & Powell die Wichtigkeit für umfangreiche soziale Netzwerke in Familienkrisen: A factor external to the family which plays a critical role in facilitating adoption to stress is emotional and material support from formal and informal sources."35 Allerdings helfen uns gegenwartsnahe Modelle nur geringfügig, wie auch Wetherell darstellt und diskutiert. Dabei laufen verschiedene Fragestellungen auch auf diese zusammen: Did people in the past choose to live in nuclear families or did demographic constraints thwart their desire to live in extended families?"36 Doch ist schon die Begrenzung auf den Familienbegriff eine Engführung der Thematik. Und auch sonst ist das Material dünn: Die einzige bekannte Arbeit von Collar, die sich mit der jüdischen Identität beschäftigt, setzt erst in einer wesentlich späteren Zeit mit der jüdischen Diaspora im Mittelmeerraum an. Sie führt aus: Ethnicity is a complex issue ... but it is a fundamental aspect of identity and one that defines individuals-both for themselves and for the people around them."37 Inwiefern solche Untersuchungen für die vorliegende Fragestellung nutzbar gemacht werden können, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr analysiert werden, es erscheint aber unwahrscheinlich.

 

E FAZIT UND AUSBLICK

Dieser Artikel konnte zeigen, dass die SNA zur Visualisierung und Analyse alttestamentlicher Erzähltexte verwendet werden kann. Insbesondere kann sie genutzt werden, um neue exegetische Fragestellungen an den Text heranzutragen. Personen, Zeit und Orte sind elementare Elemente der narratologischen Exegese und decken sich methodisch mit der SNA. Intrigen, Konflikte und Handlungsverlauf sind methodisch eng verwandt, bedürfen aber einer weiteren Analyse. Hierbei ist insbesondere kritisch anzumerken, dass die SNA nicht gleichzeitig mit der Exegese verwendet werden kann, sondern Exegese als Vorarbeit benötigt. Hier ist weitere Forschung nötig, um hier Perspektiven und exegetische Methoden zu entwickeln. Inhaltlich sind verschiedene elementare Beobachtungen wichtig.

Dabei ist zu beachten, dass sowohl die Analyse als auch die neuen Perspektiven stets im Rahmen der genutzten Hermeneutik zu sehen sind. Ein soziales Netzwerk, das im Rahmen einer narrativen Analyse eines Textes erstellt wurde, kann auch nur den narrativen Text analysieren. Wir konnten also die familiären Strukturen und ihre soziale Dynamik nach ihrer narrativen Beschreibung in der Jakobserzählung analysieren. Dies ist auch die gröβte Einschränkung dieser Studie: Es lässt sich lediglich die Frage beantworten, was der Text beabsichtigte und ausdrücken wollte.

Es ist weiterhin zu berücksichtigen, dass die SNA methodisch auf die narratologische Exegese aufbaut, also eine Erweiterung dieser Methode ist. Sie öffnet neben ihren inhärenten Analysen, wie den hier beschriebenen Zentralitätsmaβen, allerdings auch weitere Schnittstellen, z.B. zu den Sozialwissenschaften. Unsere Analyse könnte somit gegebenenfalls von weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen über soziale Netzwerke oder soziale Interaktion profitieren. Dazu ist allerdings die Frage zu beantworten, welche Modelle auf historische und narrative Texte angewendet werden können. Dazu liegen bisher allerdings kaum historische Modelle vorliegen und diese Frage ist auch in der Geschichtswissenschaft eher eine Randerscheinung.

 

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Submitted: 20/06/2022
Peer-reviewed: 04/11/2022
Accepted: 20/12/2022

 

 

Barbara Dörpinghaus; Theologisches Seminar Rheinland, Old Testament Department, Germany; and University of South Africa, Department of Biblical and Ancient Studies, South Africa; email: barbara.merkel@oc-mail.de; ORCID: https://orcid.org/0000-0002-0795-4611.
Prof. Dr. Hans-Georg Wünch; Theologisches Seminar Rheinland, Old Testament Department, Germany; and University of South Africa, Department of Biblical and Ancient Studies, South Africa; Email: Hans-Georg.Wuench@tsr.de; ORCID: https://orcid.org/0000-0003-0752-4643.
1 Dabei ist Entwicklung von Netzwerkansätzen in den Sozialwissenschaften durchaus komplex vgl. dazu C. Stegbauer und R. Häu
βling, Handbuch Netzwerkforschung (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010); C. Rollinger, Amicitia Sanctissime Colenda: Freundschaft und soziale Netzwerke in der spaten Republik (Studien Zur Alten Geschichte 19; Heidelberg: Verlag Antike, 2014).
2 A. Collar, Religious Networks in the Roman Empire (Cambridge: Cambridge University Press, 2013), 6.
3 Morten Reitmayer und Christian Marx, "Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft," in Handbuch Netzwerkforschung (ed. C. Stegbauer und R. Häu
βling; Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010), 869.
4 Vergleiche unter anderem Jennifer M. McClure, "Introducing Jesus's Social Network: Support, Conflict, and Compassion," Interdisciplinary Journal of Research on Religion 12 (2016); Dennis C. Duling, "The Jesus Movement and Social Network Analysis (Part I: The Spatial Network)," Biblical Theology Bulletin 29/4 (1999): 156-175; Dennis C. Duling, "The Jesus Movement and Social Network Analysis (Part II, The Social Network)," Biblical Theology Bulletin: A Journal of Bible and Theology 30/1 (2000): 3-14; Dennis C. Duling, "Paul's Aegean Network: The Strength of Strong Ties," Biblical Theology Bulletin 43/3 (2013): 135-154; Steven E. Massey, "Social Network Analysis of the Biblical Moses," Applied Network Science 1/1 (2016): 1-19.
5 Vergleiche die Darstellung in den beiden ersten Abschnitten und Jens Dörpinghaus, "Die soziale Netzwerkanalyse: Neue Perspektiven für die Auslegung biblischer Texte?," BeTh 5 (2021).
6 Scott, J. 2012. Social Network Analysis (London: Bloomsbury, 2012), 1.
7 Vgl. Stegbauer und Häu
βling, Handbuch Netzwerkforschung.
8 Rollinger, Amicitia Sanctissime Colenda, 345ff.
9 Vgl. Rollinger, Amicitia Sanctissime Colenda; M.A. Flexsenhar, Slaves of Christ: Caesar's Household and the Early Christians (PhD Thesis, The University of Texas at Austin, 2016).
10 Vgl. bspw. Collar, Religious Networks in the Roman Empire.
11 Vgl. Manuel Vásquez, "Studying Religion in Motion: A Networks Approach," Method & Theory in the Study of Religion 20/2 (2008): 151-184; Martin Engelbrecht,
Netzwerke Religiöser Menschen: Die Dynamik von Wissensbeständen und Netzwerken religiöser Traditionen zwischen kollektiver Selbstabgrenzung und individueller Wahl," in Qualitative Netzwerkanalyse (ed. by B. Hollstein und F. Straus; VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007).
12 Vgl. McClure, "Introducing Jesus's Social Network"; Jens Dörpinghaus, Soziale Netzwerke im frühen Christentum nach der Darstellung in Apg 1-12, 2020; Rikard Roitto, "The Johannine Information War: A Social Network Analysis of the Information Flow between Johannine Assemblies as Witnessed by 1-3 John," 2019.
13 Vgl. Michael B. Thompson, "The Holy Internet: Communication between Churches in the First Christian Generation," in Gospels for All Christians (ed. R. Bauckham; London: Bloomsbury Academic, 1998), 49-70; Duling, "The Jesus MovementI"; Duling, "The Jesus Movement II."
14 Reitmayer and Marx, "Netzwerkansätze in Der Geschichtswissenschaft," 869.
15 Collar et al., Re-thinking Jewish ethnicity through social network analysis, 8.
16 T. Schweizer, Muster sozialer Ordnung: Netzwerkanalyse als Fundament der Sozialethnologie (Berlin: Reimer, 1996).
17 Mark S. Granovetter, "The Strength of Weak Ties," American Journal of Sociology 78/6 (1973): 1360-1380.
18 Für eine ausführliche Darstellung, siehe R. Diestel, Graphentheorie (4. Auflage; Berlin: Springer, 2012).
19 Vgl. M. O. Jackson, Social and Economic Networks (Princeton: University Press, 2010), 39.
20 Vgl. Schweizer, Muster sozialer Ordnung, 188.
21 Ibid.
22 Shimon Bar-Efrat, Wie die Bibel erzahlt: Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen (ed. Kerstin Menzel und Thomas Naumann; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006), 20.
23 Bar-Efrat, Wie die Bibel erzahlt, 20.
24 D. N. Fewell, The Oxford Handbook of Biblical Narrative (Oxford Handbooks; Oxford: Oxford University Press, 2016), 113.
25 Vgl. A. Berlin, Poetics and Interpretation of Biblical Narrative, Bible and Literature Series (Winona Lake: Eisenbrauns, 1994), 23.
26 Fewell gibt dazu folgendes zu bedenken:
That biblical narrators tend to describe characters using general terms does not mean that the biblical authors were incapable of more detailed physical description." Dies liegt nach Fewell primär an der speziellen Erzähltechnik, die lediglich wichtige Informationen ausschmücke.
27 Vgl. Utzschneider and Nitsche, Arbeitsbuch Literaturwissenschaftliche Bibelauslegung: Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2014), 158. Dabei sieht Sternberg hingegen ein deutlich weniger statisches Modell:
With biblical man, in contrast, there is usually a distance- and often a clash-between the impression produced on his first appearance and the one left after his last" Vgl. M. Sternberg, The Poetics of Biblical Narrative: Ideological Literature and the Drama of Reading (Indiana Studies in Biblical Literature;Blooming-ton: Indiana University Press, 1987), 326.
28 Vgl. Berlin, Poetics and Interpretation of Biblical Narrative, 39.
29 Vgl. Bar-Efrat, Wie die Bibel erzahlt, 155.
30 Bar-Efrat, Wie die Bibel erzahlt, 156.
31 Vgl. Utzschneider und Nitsche, Arbeitsbuch Literaturwissenschaftliche Bibelauslegung: Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, 151.
32 Vgl. Bar-Efrat, Wie die Bibel erzahlt, 211.
33 Vgl. Krauss und Küchler. Erzählungen der Bibel: Das Buch Genesis in literarischer Perspektive. Die Josef-Erzählung (Heinrich Vol. 3; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005), 92.
34 Alan C. Acock and Jeanne S. Hurlbert, "Social Network Analysis: A Structural Perspective for Family Studies," JSPR 7/2 (1990): 245-264.
35 Donald G. Unger and Douglas R. Powell, "Supporting Families under Stress: The Role of Social Networks," Family Relations (1980):566.
36 Charles Wetherell, "Historical Social Network Analysis," International Review of Social History 43/6 (1998): 134.
37 Collar, Religious Networks in the Roman Empire, 224.

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